Vier Incomer aus Brasilien und Bolivien sammeln beim Internationalen Freiwilligendienst in Heilbad Heiligenstadt Erfahrungen fürs Leben
„In Bolivien wird den Kindern beigebracht, sie sollen nicht weinen. Hier im Kindergarten ist das ganz anders. Sie dürfen all ihre Emotionen zeigen – und sie lernen, wie wichtig das ist“, sagt Nataly Vargas Medina. Die 23-Jährige gehört zu den vier Incomern, denen die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel in diesem Jahr einen Internationalen Freiwilligendienst in Deutschland ermöglichen. Alle vier arbeiten in Heilbad Heiligenstadt.
Das interkulturelle Voneinander-Lernen steht im Mittelpunkt des Programms Mitleben auf Zeit, das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als Freiwilligendienst anerkannt ist. Schon seit 30 Jahren sendet die Ordensgemeinschaft junge Menschen nach Bolivien, Brasilien, Mosambik und Rumänien zu einem solchen Auslandseinsatz aus. Seit 2017 laden die Schwestern auch umgekehrt junge Menschen aus dem globalen Süden für ein Jahr nach Deutschland ein. „Das ist einfach folgerichtig. Denn das Lernen voneinander wird auch für uns Ordensschwestern international immer wichtiger“, sagt Generaloberin Schwester Maria Thoma Dikow.
Nataly Vargas Medina arbeitet im katholischen Kindergarten St. Gerhard. Die zweite Bolivianerin Orfy Tapia Vargas und der Brasilianer Anderson Aparecido de Lemos arbeiten beide bei der Raphael Gesellschaft, die sich unter dem Motto „Sehen und handeln“ besonders Menschen mit körperlichen, geistigen und psychischen Einschränkungen zuwendet. Orfy ist im Wohnheim Haus Michael, Anderson in den Eichsfelder Werkstätten eingesetzt. Und George Frederico Bartels Oliveira absolviert sein Freiwilligenjahr in der Villa Lampe, einer offenen Jugendeinrichtung der Salesianer Don Boscos, quasi gegenüber des Bergklosters in Heiligenstadt. Seit Ende August wird er in der Zweigstelle im Stadtteil Liethen eingesetzt. Der ist durch das Zusammenleben vieler Nationalitäten geprägt. „Diese Aufgabe nehme ich gerne an“, sagt der 21-Jährige fröhlich.
Unterkünfte nah beieinander
Die beiden Brasilianer wohnen in der Villa Lampe. Die beiden Bolivianerinnen haben ihr Quartier im „Haus am Weg“ der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel, wo auch ein kleiner Konvent der Gemeinschaft zu Hause ist. Beide Unterkünfte sind keine 100 Meter voneinander entfernt. „Das ist schön so. Dadurch halten wir auch abends und am Wochenende miteinander Kontakt. Anderson hat zum Beispiel schon brasilianisch für uns gekocht“, erzählt Orfy. Die vier lernen also nicht nur Deutschland kennen, sondern auch gegenseitig viel Neues über ihre jeweilige Heimat.
Und George lernt in der Villa Lampe eine Menge von den Flüchtlingen und Jugendlichen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen, die in Heiligenstadt leben. „Sie sind viel neugieriger als die deutschen Kinder, was meine Herkunft angeht. Mit ihnen komme ich sogar leichter ins Gespräch“, stellt George fest. In Brasilien arbeitet er in einem juristischen Buchverlag. Eine Arbeit, die kaum gegensätzlicher als seine jetzige sein könnte – „aber ich habe Erfahrungen in der Jugendarbeit meiner Pfarrgemeinde gesammelt. Da ist vieles ähnlich“.
Orfy wiederum fühlt sich bei ihrer Tätigkeit in dem Wohnheim an ihre eigene Vergangenheit erinnert: Sie wuchs wie Nataly im Kinderheim Aniceto Solares der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel in Vallegrande/Bolivien auf. Dies ist eine Einrichtung für Mädchen, die bei ihren Eltern aus unterschiedlichsten Gründen nicht aufwachsen können. „Auch dort wurden wie hier familienähnliche Strukturen nachgeahmt. Dass ich hier arbeiten darf, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit, aber auch mit vielen Emotionen“, sagt sie bewegt.
„Ich nehme wahr, wie dankbar die Menschen sind“
Orfy hilft den Bewohnerinnen und Bewohnern des Wohnbereichs Elisabeth morgens, in den Tag zu starten: vom Aufstehen über die Morgentoilette bis zum Frühstück. Anschließend begleitet sie die Jüngeren von ihnen in die Eichsfelder Werkstätten. Die Älteren unterstützt sie dabei, ihre Freizeit zu gestalten.
Diese Menschen haben unterschiedlichste Einschränkungen. „Aber ich nehme wahr, wie dankbar sie sind“, sagt die 25-Jährige. Das bestätigt ihre Anleiterin Evelyn Kruse: „Schon die physische, körperliche Nähe tut diesen Menschen gut. Wenn wir sie morgens in den Arm nehmen, hält dieses Glücksgefühl scheinbar den ganzen Tag an.“ Und Orfy scheue diese Nähe nicht. Im Gegensatz zu manchem Deutschen, der hier eine Freiwilligendienst leistet, sei es für sie auch selbstverständlich, Toilettengänge mit den Bewohnern zu machen. „Sie sieht, wo was zu tun ist und packt sofort mit an“, lobt Evelyn Kruse.
Auch die anderen Anleiterinnen und Anleiter loben die Pünktlichkeit, die Disziplin und den Willen der Freiwilligendienst-Leistenden. So erklärt Erzieherin Janett Laurent, die zusammen mit Nataly die zweijährigen Kinder in der „Entenküken“-Gruppe im St. Gerhard-Kindergarten betreut: „Ich bin sehr froh, dass ich sie habe.“
Staunen über Disziplin
Die Zweijährigen seien sehr herausfordernd, durchliefen aber gleichzeitig eine spannende Lebensphase: „Sie werden vom Schnuller entwöhnt, lernen sich an- und auszuziehen, werden trocken.“ Das erlebt Nataly, die in Bolivien bereits ein Grundstudium der Erziehungswissenschaft abgeschlossen hat, nun mit: „Hier kann ich eine Menge für meine zukünftige Tätigkeit lernen. Denn die Arbeit ist viel abwechslungsreicher als in vergleichbaren Einrichtungen in Bolivien.“ Und staunend fügt sie hinzu: „Zugleich bewundere ich, wie gut die Kinder in diesem Alter hier schon gehorchen. Bei uns ist es lauter.“
Aber die Sprache stellt Nataly hier vor besondere Herausforderungen. Die kleine Anastasia zeigt immer wieder nach draußen und sagt: „Ege“. Selbst Erzieherin Janett Laurent versteht zunächst nicht, was das Mädchen meint. Bis sie den Zusammenhang versteht: „Ach, Du meinst den Regen. Ja, es regnet. Aber das ist auch gut so. Die Blumen, die Bäume und die Tiere brauchen den Regen. Dann kann alles wachsen. Und die Tiere können trinken.“ Da lacht Anastasia.
Auch Orfy hadert noch mit ihren Sprachkenntnissen: „Vor allem am Anfang war es frustrierend, so wenig zu verstehen. Aber es klappt jeden Tag besser. Hier lerne ich auch, mich in Geduld zu üben.“ Zwar gibt es Handy-Apps, die problemlos übersetzen, doch will sich Orfy erst gar nicht daran gewöhnen: „Das Handy soll hier im Umgang miteinander keine Rolle spielen.“ Der Sprachintensivkurs, den die pensionierte Deutschlehrerin Luise Nübold mit den vieren im Bergkloster Bestwig geleitet hat, ist eine gute Basis, reicht aber allein nicht aus, um sofort im Alltag zurechtzukommen.
Mit zur Ferienfreizeit nach Dänemark
Pater Franz-Ulrich Otto, der Geschäftsführer der Villa Lampe, beobachtet ebenfalls, dass die Sprache das A und O ist: „Gerade hier wollen die Jugendlichen ja mit George reden.“ Aber bei der Ferienfreizeit in Dänemark, an der auch Anderson Aparecido de Lemos teilnehmen durfte, sei er schon gut integriert gewesen. Sport und Spiele würden helfen, miteinander in Aktion zu kommen. Sportlich ist George ohnehin. Deshalb sieht er sich in der Villa Lampe auch am richtigen Platz. „Am liebsten spiele ich hier Tischtennis“, grinst er.
Was die Kommunikation angeht, hat es Anderson in den Eichsfelder Werkstätten wahrscheinlich am einfachsten. Dort arbeitet er im Kreativbereich, wo Keramik-Teile bearbeitet und gebrannt, Kleidungsstücke aufgewertet und bemalt, aber auch Industrieaufträge durchgeführt werden: Dazu gehört etwa das Einlegen von Zigarettenblättchen auf Tabakdosen. „Das ist offenbar etwas, was Maschinen noch nicht können“, erläutert Anleiterin Jana Föllmer. Anderson füge sich stets schnell in die neuen Aufgaben ein und bringe den Arbeitskolleginnen und -kollegen mit ihren unterschiedlichen Einschränkungen die Schritte bei. „Ich bin sehr gerne hier. Das ist der coolste Teil des Tages“, sagt der 25-Jährige.
Ihn freut besonders, wie aufgeschlossen und fröhlich die Gruppe um ihn herum ist. „Auch wollen einige schon Portugiesisch lernen. Und mit Orfy haben wir spanische Vokabeln an eine Tafel geschrieben.“ Und immer wieder fragten sie ihn über seine Heimat aus: „Wir haben uns gemeinsam mit Orfy schon Bilder aus Brasilien und Bolivien an einem großen Bildschirm angesehen.“ Nicht nur die pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Raphael-Gesellschaft finden das Voneinander-Lernen mit den Incomern spannend, sondern auch die Menschen mit den verschiedenen Einschränkungen.
Jana Föllmer erzählt: „Als ich gefragt wurde, ob wir Anderson hier aufnehmen könnten, habe ich meine Familie gefragt. Meine Kinder sagten sofort: ‚Mama, mach das‘. Also habe ich unserem Chef gesagt: ‚Ihr könnt ihn schicken‘.“ Diese Entscheidung bereue sie nicht: „Andersons Einsatz hier in den Werkstätten ist für uns alle eine große Bereicherung.“