Mitleben, Mitbeten, Mitarbeiten

„Ich werde viel spontaner und entspannter“

Absolvieren zurzeit ihren Internationalen Freiwilligendienst in Cochabamba (v.l.): Henry Opitz, Ida Steinbrück und Carla Cedra. Foto: SMMP/Ulrich Bock
Absolvieren zurzeit ihren Internationalen Freiwilligendienst in Cochabamba (v.l.): Henry Opitz, Ida Steinbrück und Carla Cedra. Foto: SMMP/Ulrich Bock

Drei Freiwilligendienst-Leistende berichten über ihre Erfahrungen in Cochabamba in Bolivien

Wilde Kabelknoten über den Straßenkreuzungen und dichter Verkehr, streunende Hunde, Schönschrift-Übungen im Kindergarten und Hühnerfüße in der Suppe. Das ist Bolivien. Aber auch atemberaubende Natur, Tanz und Musik und ganz viel Gelassenheit. Ida Steinbrück, Carla Cedra und Henry Opitz leben jetzt schon seit vier Monaten dort und leisten in der Kindertagesstätte Casa de Niños als „Mitlebende auf Zeit“ – kurz MaZ – einen Internationalen Freiwilligendienst.

„Es ist schon wahnsinnig, wie schnell die Zeit vergeht“, verrät Ida bei einer Videokonferenz rückblickend auf die Aussendungsfeier im Bergkloster Bestwig und ihre Ankunft in Bolivien Anfang September, als sie die Ordensschwestern in Cochabamba herzlich und jubelnd empfingen. „Aber wir haben ja noch mehr als ein halbes Jahr vor uns“, blickt die 20-Jährige erwartungsvoll nach vorne. Sie stammt wie Carla Cedra aus der Region Kassel und hat dort im Sommer 2024 am Engelsburg-Gymnasium ihr Abitur gemacht.

Für Europäer gewöhnungsbedürftig: Der Verkehr in Cochabamba. Foto: SMMP/Ulrich Bock
Für Europäer gewöhnungsbedürftig: Der Verkehr in Cochabamba.

Nach dem Schulabschluss bietet sich ein solches Auslandsjahr in einem sozialen Aufgabenbereich an. Die Schwestern der heiligen Maria Magdalena senden schon seit 28 Jahren MaZ aus: nach Bolivien, Brasilien, Mosambik und Rumänien. Ihr internationaler Freiwilligendienst ist zertifiziert und Teil des bundesweiten weltwärts-Programms.

Die Casa de Niños, in der die jetzigen MaZ tätig sind, ist eine Kindertageseinrichtung für 180 Jungen und Mädchen, direkt an der Cancha, einem der größten Märkte Südamerikas. Kinder, die ihren Tag früher zwischen den Ständen verbringen mussten, während die Eltern ihre Ware verkauften, lernen jetzt in der von Schwester Maria Cornelia Koch aufgebauten Montessori-Einrichtung fürs Leben. Und die drei Freiwilligendienstleitsenden, die die Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel im vergangenen September ausgesandt haben, tun es auch.

„Was ich inzwischen gelernt habe, ist, dass man immer irgendwie durchkommt. Letztlich findet man doch irgendwo Hilfe“, sagt Henry Opitz, der aus der Nähe von Soest stammt und dort im Sommer 2024 sein Abitur gemacht hat. Diese wichtige Erfahrung gibt den drei Deutschen, die sich nach ihrem Abitur zu diesem Freiwilligendienst entschlossen haben, viel Selbstvertrauen. „Ich merke, dass ich dabei viel spontaner und zugleich entspannter werde“, fügt Carla Cedra hinzu.

Frühstückspause in dem Montessori-Kindergarten. Foto: SMMP/Florian Kopp
Frühstückspause in dem Montessori-Kindergarten.

Waren die drei anfangs noch in dieser umtriebigen 850.000 Einwohner-Metropole überfordert, stresst sie der Alltag inzwischen nicht mehr. „Wenn man Besorgungen machen will, weiß man eigentlich gar nicht, wo man danach suchen soll. Kleinigkeiten, bei denen wir zu Hause in ein Fachgeschäft gehen, sind hier wirklich ein Akt“, nennt Ida Steinbrück ein Beispiel. Andererseits sei auch alles auf der Cancha zu bekommen. Nur müsse man dort länger danach suchen.

Abenteuerliche Busfahrten

Abenteuerlich sind die Fahrten in den sogenannten Trufis, kleinen Bussen mit neun oder zwölf Plätzen, die zu ungefähren Zeiten auf unbestimmten Linien verkehren. „Die Busse muss man erstmal erkennen. Sie haben hinter der Windschutzscheibe einen Zettel mit der Route liegen. Und man hält sie per Handzeichen an“, erklärt Carla. Die ersten Male seien die drei irgendwo angekommen – nur nicht da, wo sie dachten. „Und wenn man mit seinen vollen Einkaufstaschen, in denen schon mal Eier und Milch stecken, einsteigt, muss man sich oft ganz schön quetschen“, schildert Henry seine Erfahrungen. Aber irgendwie klappt das Meiste. Und das schenke den Menschen in dieser Metropole offenbar soviel Gelassenheit.

Auch im Kindergarten haben die drei inzwischen ihre Rolle gefunden, wenngleich die Einarbeitung knapp war: „Wir wurden hier sofort ins kalte Wasser geworfen“, erinnert sich Ida Steinbrück. Entsprechend schwierig sei es gewesen, Prozesse und Abläufe zu verstehen – zumal sich die Deutschen ihre Sprachkompetenz im Spanischen erst noch erarbeiten mussten.

180 Kinder besuchen die Einrichtung täglich, aufgeteilt auf sechs Gruppen. Foto: SMMP/Florian Kopp
180 Kinder besuchen die Einrichtung täglich, aufgeteilt auf sechs Gruppen.

Zugleich bedeutete der Wurf ins kalte Wasser aber auch, dass man den Freiwilligen Vertrauen schenkte. „Manches machten wir auf unsere Weise. Das sorgte wahrscheinlich für Missmut unter den anderen Mitarbeitenden“, hat Carla beobachtet. „Manche hatten offenbar Hemmungen, mit uns Gespräche anzufangen, so dass wir uns fragten: Haben die überhaupt Lust auf uns?“, so die 18-Jährige. Inzwischen seien diese Missverständnisse aber weitgehend ausgeräumt. Und die Freiwilligen merken selbst, dass sie für den Kindergarten eine Bereicherung sind.

Sie arbeiten aufgeteilt auf die fünf Gruppen mit den drei- bis sechsjährigen Kindern. Dazu gehören ebenso die Mithilfe bei der Zubereitung der Mahlzeiten oder das Erstellen und Basteln von Materialien. Alle drei geben den Kindern hier schon Englisch-Unterricht. Ein Angebot, das die Casa de Niños ohne die Deutschen gar nicht leisten könnte. Und Henry leitet die Sportstunden, bei denen ihm Ida und Carla zweimal wöchentlich assistieren. „Dabei ist der Sportunterricht – anders als der Englisch-Unterricht – nicht altersdifferenziert“, erläutert Henry. Das sei eine besondere Herausforderung: „Denn es ist nicht immer einfach, Übungen zu finden oder zu entwickeln, die alle gleichermaßen mitmachen können.“

Im Kindergarten herrschen Disziplin und Ordnung

Schwester Maria Cornelia Koch hat die Casa de Ninos aufgebaut und ist bis heute deren Geschäftsführerin. Foto: SMMP/Ulrich Bock
Schwester Maria Cornelia Koch hat die Casa de Ninos aufgebaut und ist bis heute deren Geschäftsführerin.

Dahinter steckt allerdings eine pädagogische Idee: „Denn die Älteren helfen den Jüngeren. Sie erklären ihnen, was sie machen müssen. Und das klappt auch gut“, stellt der 19-Jährige fest. So werde im Kindergarten immer viel Wert auf Solidarität gelegt. Gleichwohl gibt es Unterschiede zu deutschen Einrichtungen, die die Freiwilligendienst-Leistenden befremden. „Dazu gehört, dass hier die mahnende Stimme schneller erhoben wird. Die Kinder müssen sich benehmen. Sie dürfen sich nicht immer frei bewegen. Insgesamt wird viel Disziplin verlangt“, führt Carla aus.

Das hat allerdings seinen Grund, wie Ida Steinbrück erfahren hat: „Schwester Maria Cornelia erklärte uns, dass die Kinder auf die Anforderungen in der Schule vorbereitet werden müssen. Dort spielen Disziplin und Ordnung wohl ebenfalls eine große Rolle. Die würden die Eltern deshalb von dem Kindergarten erwarten.“

Und aus diesem Grund gibt es in dem Montessori-Kindergarten sogar Schönschrift-Übungen: „In den bolivianischen Schulen ist das ein eigenes Fach, für das es Noten gibt. Mein Vater kannte das noch aus seiner Schulzeit. Heute gibt es das nicht mehr. Hauptsache ist doch, die Schrift ist lesbar,“ erzählt Henry. Seine Schrift sei sicher nicht die schönste. Und so musste er lachen, als ihn die Kinder darauf ansprachen – „und auch die Erzieherinnen zeigten mir manchmal, wie jeder Buchstabe genau auszusehen hat, wo ich fast keinen Unterschied mehr sah.“

All das gehört zum Kennenlernen einer anderen Kultur, in der teilweise andere Maßstäbe gelten. Die außergewöhnliche Gastfreundlichkeit ist ebenso Teil dieser Kultur wie die latente Unpünktlichkeit, die aber zugleich Ausdruck der Gelassenheit ist. Und die Fröhlichkeit, die sich in der Leidenschaft für Musik und Tanz widerspiegelt. Auch die andere Esskultur gehört dazu. „In Cochabamba wird wirklich sehr abwechslungsreich und viel gegessen. Es gibt jede Menge Spezialitäten“, sagt Carla. „Und verrückte Suppen“, schließt Ida an. Die mit den Hühnerfüßen, die es Provinzhaus der Ordensschwestern hab, gehört sicher dazu.

Und was den drei MaZ ebenfalls auffällt: der sorglose Umgang mit Müll. „Der liegt manchmal mitten in der Landschaft“, ärgert sich Henry. Darüber seien sie mit den Einheimischen schon ins Gespräch gekommen. Solche Erfahrungen und das interkulturelle Voneinander-Lernen sind wesentliche Absicht des weltwärts-Programms.

Gut auf den Einsatz vorbereitet

Die Casa de Ninos liegt direkt neben der Cancha, einem der größten Märkte Südamerikas. Viele Kinder wachsen hier während ihrer ersten Lebensjahre zwischen den Ständen auf. Foto: SMMP/Florian Kopp
Die Casa de Ninos liegt direkt neben der Cancha, einem der größten Märkte Südamerikas. Viele Kinder wachsen hier während ihrer ersten Lebensjahre zwischen den Ständen auf.

In den ersten Monaten ihres Aufenthaltes haben die drei Deutschen schon zu spüren bekommen, dass sie trotz ihres Status als Freiwilligendienst-Leistende mit kleinem Taschengeld in Cochabamba eher zu den privilegierten Menschen gehören. „Die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten sind deutlich“, sagt Ida Steinbrück. Viele der indigenen Kinder in der Casa de Niños kämen aus sehr einfachen Verhältnissen.

Dass Ida, Carla und Henry in Cochabamba – wo es nicht viel Tourismus gibt – auffallen, hat allerdings auch Nachteile. „Oft bezahlen wir für Lebensmittel oder Taxifahren mehr als die Einheimischen. In unserer Taxi-App haben wir die Namen schon geändert, damit sie spanischer klingen“, verrät Carla. Dies sind ebenfalls einprägsame Erfahrungen, die die drei deutschen MaZ in diesem Land sammeln.

Erfahrungen, auf die die drei gut eingestellt waren. „Denn wir hatten ja ein halbes Jahr intensiver Vorbereitung gehabt. Hilfreich war vor allem, dass wir uns mit früheren Freiwilligendienst-Leistenden austauschen konnten, die ebenfalls in Cochabamba waren. Die haben uns schon auf viele Tücken im Alltag aufmerksam gemacht“, meint Ida Steinbrück. Und Carla ergänzt: „Vieles hat uns nicht überrascht, wenngleich es doch anders war, als wir es uns vorher vorstellen konnten.“

Unsicher fühlten sich die drei MaZ daher in Cochabamba von Anfang an nicht. Auch genießen sie die überwältigende Natur in diesem Land: die Bergwelt, Wasserfälle, ungewöhnliche Tiere. Die großen Salzseen sind noch ein Ziel, das die drei in diesem Jahr ansteuern wollen. „Nur an die Insekten mussten wir uns erst einmal gewöhnen“, meint Ida. Immerhin: Gefährliche Mücken wie im Tiefland, die Dengue-Fieber übertragen, kommen in Cochabamba auf 2500 Metern Höhe nicht vor. „Beim Staubwischen habe ich aber schon mal einen Skorpion mit aufgekehrt“, berichtet Henry.

Weintrauben zum Jahreswechsel

"Hilf mir, es selbst zu tun", lautet das Motto Maria Montessoris. So beschäftigen sie sich schon vor der Schule selbstbestimmt mit dem Alphabet und den Zahlen. Foto: SMMP/Florian Kopp
„Hilf mir, es selbst zu tun“, lautet das Motto Maria Montessoris. So beschäftigen sie sich schon vor der Schule selbstbestimmt mit dem Alphabet und den Zahlen.

Auch das Weihnachtsfest haben die MaZ in Bolivien ganz anders erlebt, als sie es in Deutschland kannten. „An Heiligabend war es bis abends in der ganzen Stadt noch wuselig“, sagt Carla. Erst mit dem Einbruch der Dunkelheit kehrte Ruhe ein. Die Gottesdienste finden erst spät abends und die Bescherung ab Mitternacht statt. Alle drei feierten diesen Abend gemeinsam in der Familie eines bolivianischen Freundes, Ida und Carla den ersten Weihnachtstag auch noch einmal im Kreise ihrer Hausgemeinschaft. Sie leben mit drei Bolivianerinnen in einem Wohntrakt zusammen, Henry in einem Appartement weiter außerhalb.

Zu Silvester gibt es ebenfalls andere Bräuche. „Auf unserer Feier mit mehreren Bolivianern lernten wir die Tradition kennen, dass es dann zwölf Weintrauben für jeden gibt und alle für jeden Monat des nächsten Jahres einen Wunsch aussprechen.“

Wünsche haben Carla, Ida und Henry auch für die verbleibende Zeit ihres Freiwilligendienstes: „Ich möchte zum Beispiel noch zum Titicacasee und zu Machu Pichu in Peru“, erklärt Henry, der den Jahreswechsel bereits in Buenos Aires in Argentinien verbrachte. „Ich hoffe, dass sich die Abläufe an unseren Einsatzplätzen im Kindergarten noch besser einspielen. Damit wir geordneter arbeiten können“, meint Carla. Und Ida weiß: „Jetzt, nach den großen Ferien, wird es da ganz anders. Denn viele Kinder, die dann die Schule besuchen, haben den Kindergarten jetzt verlassen. Dafür kommen viele Zwei- und Dreijährige neu hinzu.“

Hinweis: Über die Freiwilligen, die 2023/2024 in Cochabamba im Einsatz waren, gibt es auch einen Film.

Cochabamba hat rund 850.000 Einwohner. In der pulsierenden Stadt gibt es viel Leben, aber auch große Armut. Foto: SMMP/Ulrich Bock
Cochabamba hat rund 850.000 Einwohner. In der pulsierenden Stadt gibt es viel Leben, aber auch große Armut. Foto: SMMP/Ulrich Bock