
Vier junge Menschen aus Bolivien und Brasilien leisteten in Heilbad Heiligenstadt einen Internationalen Freiwilligendienst: Dabei erlebten sie die Deutschen als akribisch und humorvoll, aber nicht immer hilfsbereit
„Ich habe sehr wichtige Erfahrungen für mich gesammelt. Dazu gehört, dass ich hier wie in einer Familie aufgenommen wurde“, sagt die 26-jährige Bolivianerin Orfy Tapia Vargas nach dem Abschluss ihres Internationalen Freiwilligendienstes im Wohnheim Haus St. Michael der Raphael Gesellschaft in Heilbad Heiligenstadt, einem Wohnheim für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Sie war in einem Kinderheim der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel in Vallegrande in Bolivien aufgewachsen und hatte von der Ordensgemeinschaft das einmalige Angebot erhalten, für ein Jahr nach Deutschland zu kommen.

„Mich hat es sehr berührt, hier etwas von der Liebe, die ich erfahren habe, zurückgeben zu können“, sagt die Bolivianerin. Ihre Anleiterin Andrea Künne bestätigt: „Sie ist hier mit ihrer herzlichen Art gut angekommen. Sie hatte keinerlei Berührungsängste mit den Bewohnerinnen und Bewohnern und immer das richtige Verhältnis von Nähe und Distanz gewahrt.“
„Respekt vor anderen Kulturen, sich selbst besser kennenlernen, die eigene Komfortzone verlassen, wichtige Erfahrungen mit in die Heimat nehmen: All das sind Ziele und Aufgaben unseres Programms ‚Mitleben auf Zeit‘“, erläutert die pädagogische Koordinatorin Schwester Theresita Maria Müller. „Mitleben auf Zeit“ – kurz MaZ – ist ein Angebot der Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel und als Internationaler Freiwilligendienst innerhalb des von der Bundesregierung geförderten weltwärts-Programms anerkannt.
Zusammen mit Orfy Tapia Vargas waren über diesen Dienst eine weitere Bolivianerin und zwei junge Brasilianer von Mai 2024 an ein Jahr lang in Deutschland. Jetzt werden sie durch drei neue Freiwillige aus Südamerika abgelöst.
Mitarbeiten im sozialen Brennpunkt
George Oliviera Bartels arbeitete ein Jahr lang in der Zweigstelle der Villa Lampe im Stadtteil Liethen, in der sogenannten „Kleinen Villa“. An diesem sozialen Brennpunkt wurde er in der offenen Jugendarbeit eingesetzt: „Ich fand es spannend, mit Menschen und so vielen Kindern zusammenzuarbeiten. Vorher hatte ich so recht keine Vorstellung davon, wie das funktionieren würde. Denn in dem Stadtteil auf dem Liethen gibt es insgesamt 70 Nationalitäten“, erzählt er. Aber beim Spielen und Interagieren miteinander seien all diese Unterschiede zweitweise verschwunden. Ihm fiel auf: „Vor allem die ausländischen Jugendlichen, die selbst eine Migrationsgeschichte haben, haben sich für mich und meine Herkunft interessiert.“

Seine Anleiterin Marianne Kruse bestätigt: „Auf dem Liethen war George schon am ersten Tag angekommen. Er hat sofort Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen gesucht. Und er war bei ihnen schnell beliebt.“ Dabei lobt sie vor allem seine Kreativität: „Zum Beispiel haben wir einen brasilianischen Tag veranstaltet. Dabei haben wir mit ihm brasilianisch gekocht – und er hat uns viel über die Traditionen und Bräuche in seiner Heimat erzählt.“ Auch gestaltete George Kostüme mit. Oder er half bei der Konstruktion eines Schattentheaters.
Kreativkopf entdeckt für sich die Nähmaschine
Ähnlich kreativ zeigte sich Anderson Aperecido de Lemos in den Eichsfelder Werkstätten der Raphael Gesellschaft: Er bemalte dort T-Shirts und entdeckte die Nähmaschine für sich. „Wir bekommen ja viel Retourware von Kleidungsherstellern, die hier aufgearbeitet oder repariert werden muss. Dann macht er sich sehr selbstständig an die Arbeit“, erklärt seine Anleiterin Christina Aschenbach. „Und sogar zum Schluss, als er noch Resturlaub hatte, kam er hierher, um zu nähen. Das fanden wir sehr beeindruckend.“
So habe Anderson seinem Team, zu dem psychisch wie geistig beeinträchtigte Menschen gehören, viel Inspiration vermittelt. Zwischendurch hätten sie mit ihm sogar portugiesische und spanische Vokabeln gelernt.
„Liebenswert, aufmerksam und fleißig“

Die vierte im Bunde war Nataly Vargas Medina. Die Bolivianerin absolvierte ihren Freiwilligendienst im katholischen Kindergarten St. Gerhard. Dessen Leiterin Kerstin Durstewitz ist traurig, dass die 24-Jährige nun ihren Einsatz beendet hat: „Eigentlich wollen wir sie gar nicht gehen lassen. Sie ist sehr liebenswert, aufmerksam und fleißig. Nataly ist eine ruhige Person. Und ihre Ruhe strahlt auf die Kinder aus. Das hat ihnen gutgetan.“
Im St. Gerhard-Kindergarten half sie in der Gruppe mit den zweijährigen Hortkindern mit. Und ihr fiel auf: „Es gibt große Unterschiede zu der Arbeit in deutschen und bolivianischen Kindergärten. In Deutschland sind die Eltern zum Beispiel sehr daran interessiert, was ihre Kinder hier machen und wie es ihnen geht. Sie werden in die Arbeit einbezogen. Das ist in Bolivien völlig anders.“
Staunen über das Geschichtsbewusstsein
Auch den anderen dreien fielen viele Eigenarten der Deutschen auf: Orfy liebt das Deutschlandticket und wünscht sich eine derart günstige Reisemöglichkeit auch in ihrem Heimatland. Anderson faszinierte das System des Flaschenpfands: „Warum gibt es das in Brasilien nicht? Da landen viel mehr Flaschen im Müll oder in der Landschaft.“ Und George stellte fest: „Die Deutschen haben ein ganz anderes Geschichtsbewusstsein: Das haben wir gesehen, als wir das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar besucht haben.“ Aber auch die ältere Geschichte werde aufgearbeitet: „Zum Beispiel gibt es hier in Heiligenstadt eine Stadtmauer, an der Tafeln stehen, auf der die Geschichte erklärt ist. Mich hat sehr beeindruckt, dass die Mauer älter ist als das Land Brasilien.“

Vor seinem Einsatzjahr hatte er gedacht, die Deutschen hätten keinen Sinn für Humor: „Aber ich habe sie ganz anders erlebt. Jetzt weiß ich, dass das nicht zutrifft.“ Nur würde der Brasilianer den Deutschen etwas mehr Gelassenheit wünschen. Und Nataly fiel auf, dass die Hilfsbereitschaft außerhalb des Kindergartens, in dem sie arbeitete, spürbar nachließ. Auch den latenten Fremdenhass bekamen die vier zu spüren. „Im Zug haben uns zum Beispiel Leute gesagt, dass wir wieder nach Bolivien zurückkehren sollen und dass wir nicht willkommen sind. So etwas haben wir mehrfach erlebt“, erzählt Nataly.
Das Gelernte in der Heimat umsetzen
Doch überwiegen auf beiden Seiten die positiven Erfahrungen. Nataly erklärt: „Ich möchte in die Praxis umsetzen, was ich hier gelernt habe. Zu Hause will ich auch wieder in einem Kindergarten arbeiten, dann aber vielleicht noch Pädagogik studieren.“ Und Anderson sagt: „Nach diesem Jahr kann ich mir gut vorstellen, etwas Soziales zu studieren oder in meiner Heimat in einem Krankenhaus zu arbeiten.
Orfy hingegen will versuchen, noch einmal nach Deutschland zurückzukommen. Sie würde gerne weiterhin bei der Raphael Gesellschaft arbeiten, die Sprache noch besser lernen und dann vielleicht eine Pflegeausbildung absolvieren. Die Verantwortlichen der Raphael Gesellschaft wollen sie dabei unterstützen. Und auch, wenn dieser Wunsch für Orfy vielleicht ein Traum bleibt: Mit diesem Jahr ist für alle vier bereits ein Traum in Erfüllung gegangen, durch den sie viel für ihr weiteres Leben gelernt haben. Nataly drückt es so aus: „Vor allem habe ich verstanden, dass ich alles erreichen kann, was ich mir vornehme.“
