Mitleben, Mitbeten, Mitarbeiten

An eigene Grenzen gestoßen und daran gewachsen

Sr. Julia Maria Hanke (2.v.l.), Birgit Bagaric (r.) und Sophie Damberg überreichen Ida Steinbrück, Carla Cedra und Henry Opitz (in der Mitte v.r.) die Zertifikate. Foto: SMMP/Ulrich Bock

Rückkehrende reflektieren nach einem Jahr als „Mitlebende auf Zeit“ in Bolivien ihre Erfahrungen

„Die privilegierte Situation, in der ich aufgewachsen bin, ist mir in Bolivien noch viel bewusster geworden. Man könnte wütend darüber sein, muss aber seinen Frieden damit schließen – und gegen diese Ungleichheit tun, was man kann“, sagt Carla Cedra am Ende des Reflexionswochenendes zu ihrem Internationalen Freiwilligendienst mit den Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel in Cochabamba in Bolivien.

Zwei Tage waren die drei ehemaligen „Mitlebenden auf Zeit“ (kurz: MaZ), die von Sommer 2024 bis Sommer 2025 ihr Einsatzjahr in der Casa de Niños – dem Montessori-Kinderarten in Cochabamba – verbracht haben, jetzt noch einmal im Bergkloster Bestwig. Hier hatten sie auch Teile ihrer Vorbereitung auf diesen Einsatz verbracht. Die pädagogische Leiterin Birgit Bagaric und die Rückkehrerin Sophie Damberg leiteten die drei zur Reflexion und ihrem Erfahrungsaustausch an.

Deutlich wurde schon jetzt: Der einjährige Auslandseinsatz wird die drei ein eben lang prägen. Und ihre Erfahrungen wollen sie an andere weitergeben.

Henry Opitz (l.) mit den älteren Kindern in der Casa de ninos. Foto: Ida Steinbrück
Henry Opitz (l.) mit den älteren Kindern in der Casa de ninos. Foto: Ida Steinbrück

„Ich habe noch mehr verstanden, wie wichtig Kinder für diese Welt sind und dass es eine große Bedeutung hat, ihnen viel Raum zu geben. Von ihnen nehme ich Gelassenheit, Leichtigkeit und Humor für mein weiteres Leben mit“, sagt Carla Cedra. Sie hatte – wie ihre Freundin Ida Steinrück – 2024 am Engelsburg-Gymnasium in Kassel ihr Abitur gemacht, das Angebot „Mitleben auf Zeit“ dort kennengelernt und sich daraufhin für diesen Internationalen Freiwilligendienst entschieden.

Kinderperspektive als bereichernd erlebt

Ida Steinbrück empfand es als bereichernd, sich in Bolivien in die Perspektive der Kinder hineinzuversetzen. „Natürlich tun sie Dinge, die Erwachsenen normalerweise vermeiden würden. Etwa wenn sie ihre Finger unter den Wasserhahn halten und das spritzende Wasser alle um sie herum nass macht. Mein erster Impuls ist da natürlich den Hahn auszudrehen und eine Ansage zu machen – aber aus Kindersicht ist das doch total lustig. Alle werden nass und quietschen vergnügt.“

Generalökonomin Schwester Julia Maria Handke übergibt Carla Cedra das Zertifikat. Foto: SMMP/Ulrich Bock
Generalökonomin Schwester Julia Maria Handke übergibt Carla Cedra das Zertifikat. Foto: SMMP/Ulrich Bock

Dabei habe sie gemerkt, wie sehr sie manchmal in meinem „Alles-muss-schnell-gehen“ Modus ist: „Dabei ist es doch eigentlich schön, sich auch an solchen kleinen Dingen zu freuen. Für die Kinder war das einfach ein kurzer, spaßiger Moment – und manchmal ist ja auch einfach das, was zählt.“ Durch diese Erfahrungen sei sie in diesem Jahr deutlich gelassener und geduldiger geworden.

In der Casa de Niños hatten die drei Freiwilligen vor allem die Aufgabe, die Erzieherinnen bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Die drei gestalteten aber auch eigene Sport- und Bewegungsangebote und übernahmen den Englischunterricht für die Vormittagskinder. „Das ist eine tolle Vorbereitung auf die Schule. Und ein Angebot, das wir hier ohne Freiwillige nicht leisten könnten“, sagt die Leiterin des Kindergartens, Schwester Guadelupe Céspedes.

Eingetaucht in die Kultur

Gleichzeitig lernte Henry für sich, wie wichtig es ist, eine Sprache zu lernen: „Ich bin da nicht sehr affin. In der Schule habe ich nicht viel Motivation für die Fächer gefunden. Aber in Bolivien kommt man ohne die Sprachkenntnisse nicht weit. So lernte ich, wie wichtig Sprachen sein können.“

Ein beliebtes Spiel in dem Montessori-Kinderhaus ist das  "Möhren ziehen". Foto: Ida Steinbrück
Ein beliebtes Spiel in dem Montessori-Kinderhaus ist das „Möhren ziehen“. Foto: Ida Steinbrück

In der Anfangszeit habe er vor allem gemerkt, wie schwer es ist, seine Erwartungen oder Gefühle verständlich auszudrücken, wenn man die Sprache nicht beherrscht. Und gerade dann stoßen auch technische Hilfen wie Apps an ihre Grenzen. „Insofern steigt mein Interesse, Sprachen zu lernen.“ Jetzt studiert der Abiturient aus der Nähe von Soest Tourismus und Eventmanagement – „und da würde ich auch gerne meine Erfahrungen aus diesem Jahr einbringen. Denn es ist etwas ganz anderes, ob man als Tourist einreist oder in die Kultur eintauchen will. Aber vielleicht lassen sich auch Angebote entwickeln, die beides miteinander verbinden.“

Die Sprache zu erlernen und auch im Einsatzland zu verstehen, gehörte zu den größten Herausforderungen, denen sich die drei stellen mussten. Eine andere war das Sich-Zurechtfinden in der neuen Umgebung. „Welche Busverbindungen gibt es da? Wo kann ich einkaufen? Wie kann ich bezahlen?“, nennt Ida einige der Fragen aus der Anfangszeit. Die meisten Lebensmittel werden auf dem Markt gekauft. „Und der Gang über die riesige Cancha in Cochabamba gehörte auch zu den großartigsten Erlebnissen“, sagt Henry. Aber soviel Gemüse, Obst und Gewürze es dort auch gibt: „Sternanis für die Weihnachtsplätzchen zu finden, war schon ziemlich schwierig.“ Davon haben die drei Freiwilligen aus Deutschland im Advent viele Bleche backen dürfen.

Manchmal wird der Ton auch rau

Und auch im Kindergarten wird anders gearbeitet als man es von Deutschland her kennt. „Obwohl es sich um ein Montessori-Haus handelt, das die Kinder ja anleiten will, durch selbstbestimmte Erfahrungen zu lernen, ging es dort manchmal autoritär zu. Der raue Ton war anfangs befremdlich“, sagt Ida. Erst allmählich verstanden die drei, warum das so ist: Denn die Kinder müssen gleichzeitig auf die anschließende Schulzeit vorbereitet werden. Und die arbeiten eben sehr autoritär.

Viele Kinder in der Casa de niños kommen aus ärmlichen Verhältnissen. Ein wichtiger Weg aus dieser Situation heraus ist Bildung, weiß Carla. Sie vermutet: „Wahrscheinlich stehen die Schwestern und ihre Mitarbeitenden in einem solchen Kindergarten auch unter dem Druck, Lernerfolge ein wenig zu erzwingen.“

Hier beschäftigen sich die Kinder mit der Anatomie des Menschen. Foto: Ida Steinbrück
Hier beschäftigen sich die Kinder mit der Anatomie des Menschen. Foto: Ida Steinbrück

Bewundert haben sie hingegen, wie sehr sich das Team des Kindergartens noch um solche Jungen und Mädchen kümmert, die zu Beginn ihrer Schulzeit Schwierigkeiten haben, dem Unterricht zu folgen. Einige von ihnen kommen nachmittags zu uns zum Förderunterricht. „Dann haben wir zum Beispiel bei den Hausaufgaben geholfen. Wenn ein Kind Schwierigkeiten in Englisch hat und die Aufgabenstellung auf Englisch erst gar nicht versteht, befindet es sich natürlich in einem Dilemma. Da halfen wir ihm dann raus“, erklärt Henry.

Oft habe die Zeit von 14 bis 17 Uhr allerdings nicht gereicht, mit allen Hausaufgaben fertig zu werden, hat Carla beobachtet, die nun Biologie in Bonn studiert: „Das kennt man aus Deutschland nicht. Da gibt es ja ebenfalls Offene Ganztagsschulen, wo nach dem Mittagessen die Hausaufgaben gemacht werden. Aber dann bleibt am Ende immer noch genügend Zeit zum Spielen. Der Druck auf diese Kinder ist also groß.“

Ein anderer Umgang mit Fremden

So gibt es viele Unterschiede zwischen den Kulturen. Allen drei erlebten die Bolivianer aber als offen und herzlich. „Wir fühlten uns schnell aufgenommen und integriert“, sagt Ida Steinbrück, die gerade eine Ausbildung zur Rettungssanitäterin macht und Medizin studieren will. Nach ihrer Rückkehr fällt ihr umso deutlicher auf: „In Deutschland ist der Umgang mit Fremden anders. Das empfinde ich jetzt umso stärker.“

Arbeit mit Montessori-Materialien. Foto: Ida Steinbrück
Arbeit mit Montessori-Materialien. Foto: Ida Steinbrück

Jetzt gilt es für sie, Carla und Henry, erst einmal in der alten Lebensrealität wieder anzukommen. Carla würde ihre Erfahrungen gerne künstlerisch verarbeiten, malerisch oder indem ich meine Gedanken aufschreibe.“ Und Ida weiß jetzt schon: „Der Austausch mit anderen Rückkehrerinnen und Rückkehrern wird wichtig sein.“ Deshalb war sie auch dankbar für das Abschluss-Seminar.

Die pädagogische Leiterin Birgit Bagaric bedankte sich bei den dreien mit sehr persönlichen Worten: „Ihr habt Euch selbst entdeckt und seid daran gewachsen. Ihr habt Hürden überwunden, die Euch an die Grenzen brachten. Ihr habt eine andere Kultur kennengelernt und seid flexibel und geduldig geworden.“ Sie lud die Freiwilligendienstleistenden ein, nach ihrer Rückkehr Teil der SMMP-Familie zu bleiben. Eine Möglichkeit dazu bietet der Brückenschlag e.V., der Verein, in dem sich Rückkehrerinnen und Rückkehrer nach ihrem Einsatz mit den Schwestern der heiligen Maria Magdalena Postel weiterhin austauschen, vernetzen und engagieren.

Zum Abschluss erhielten Ida Steinbrück, Carla Cedra und Henry Opitz schließlich aus den Händen von Generalökonomin Schwester Julia Maria Handke, Birgit Bagaric und Ulrich Bock, dem Leiter der Missionszentrale im Bergkloster Bestwig, ihr offizielles Zertifikat. Und dazu gab es eine mit Süßigkeiten gefüllte SMMP-Tasse. Auch die wird dazu beitragen, dieses Jahr nie zu vergessen.

Blicken dankbar für die Erfahrungen in ihrem Jahr als "Mitlebende auf Zeit" zurück: Carla Cedra, Ida Steinbrück un Henry Opitz (v.r.). Foto: SMMP/Ulrich Bock
Blicken dankbar für die Erfahrungen in ihrem Jahr als „Mitlebende auf Zeit“ zurück: Carla Cedra, Ida Steinbrück un Henry Opitz (v.r.). Foto: SMMP/Ulrich Bock